Jetzt geht es um HAARE!? Euer Ernst?

oder: Gerechtigkeit für alle – und Medien, die Trolle füttern

Anmerkungen zum FFF Hannover „Dreadlock-Skandal“ (Global Strike 25.3.2022).

Spätsommer 2019, Opernplatz Hannover, erstes Klimacamp. Mit mir (Julia) stehen im Kreis versammelt Menschen verschiedener Klimagerechtigkeits-Ortsgruppen. Die Position meiner Gruppe zum Thema Rassismus wird von den Fridays als zu lasch kritisiert. Meine Reaktion: „Echt jetzt? Wir sind doch keine Rassisten. Wir müssen uns das doch nicht extra auf die Fahnen schreiben, wenn es sogar im Grundgesetz verankert ist.“

Mit anderen Worten: Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht wie all die, die jetzt von der Dreadlock-Diskussion angenervt sind, sich angegriffen und womöglich auch ausgegrenzt fühlen, weil sie ihr Engagement für den so dringenden Klimaschutz mit einer anscheinend überflüssigen oder ideologischen Debatte diskreditiert sehen.

Aber ich hatte Glück.

In meiner „Klimablase“ tauchten immer mehr Menschen aus dem Globalen Süden auf. Deren oft lebensgefährlicher Kampf gegen die massive Zerstörung in ihren Heimatregionen rieb mir ein paar Fakten direkt unter die Nase: Die Kämpfe gelten auch Projekten, an denen deutsche Unternehmen maßgeblich beteiligt sind und profitieren. Von Fracking über Infrastrukturprojekte, von der Gewinnung von „Blutkohle“ und Bodenschätzen zu Fast Fashion. Alles klima- und umweltschädlich, aber darüber hinaus eben auch brutale neokoloniale Ausbeutung. Bis dahin war das nur ein Schlagwort, wurde aber nun mit der Lebensrealität von konkreten Menschen hinterlegt. Und mit deren Frage: „Wieso kennt nicht mal ihr diese Zusammenhänge? Wieso habt ihr noch nie von Wintershall gehört?“

Irgendwann kapierte ich, was „antirassistisch“ bedeutet. Auch diese Erkenntnis verdanke ich Menschen, die aus ihrer eigenen Perspektive berichten, eben aus der von Schwarzen Menschen, die strukturellen Rassismus in Deutschland erleben und seit Jahren sehr, sehr freundlich und überzeugend zum Beispiel mit ihren Büchern versuchen, weißen Menschen verständlich zu machen, dass unsere rassistische Sozialisation zwangsläufig rassistisches Denken und Handeln mit sich bringt. Und dass es nur einen Weg gibt, das zu verändern: sich damit auseinanderzusetzen. Das Buch „Exit Racism“ von Tupoka Ogette zum Beispiel, aber auch die Arte-Doku „Rottet die Bestien aus“ sind schwer auszuhalten, aber hilfreich.

Die Fridays von 2019 wussten: Es geht nicht nur um CO2-Emissionen, nicht nur um ein abstraktes zu schützendes Klima oder eine zu bewahrende „Umwelt“. Es geht um Menschen und darum, dass sie eine Zukunft auf diesem Planeten haben. Dass sie jetzt und in 20 oder 30 Jahren Böden für Nahrung, genug Wasser, saubere Luft, ein sicheres Zuhause, Freiheitsrechte und Gesundheitsvorsorge (und als Grundlage für alles ein zumindest halbwegs stabiles Klima) haben. Sich dazu zu bekennen, dass diese Basics allen Menschen gleichermaßen zustehen – das steht übrigens auch im Grundgesetz, ganz am Anfang – macht aus einer Klimafrage eine Gerechtigkeitsfrage.

Die Gerechtigkeitsfrage ist nicht technologisch lösbar, sondern nur politisch. Und sie hat zwei Achsen: eine generationenabhängige, eine örtliche. Junge Menschen im Globalen Süden sind die, die es am härtesten trifft, weil sie ihr Leben im Klima-Katastrophengebiet noch vor sich haben, einem Gebiet, das seit 500 Jahren vom (Neo-)kolonialismus in die zweite Reihe gesetzt wird. Unter den alten Menschen im Globalen Norden – zu denen ich gehöre – sind die, die die größte historische Verantwortung und den größten Hebel haben und die diese Frage am vehementesten von sich weisen. Das ist nachvollziehbar, weil wir es sind, die von der bestehenden Ungerechtigkeit am meisten profitieren.

Die Frage, ob auf einem globalen FFF-Klima-Streik, also einem Streik gemeinsam und solidarisch mit Gruppen aus dem Globalen Süden, und mit einem explizit antikolonialen Fokus, eine weiße Frau mit Dreadlocks in Hannover auf der Bühne stehen sollte, obwohl Schwarze Menschen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass sie diese aus ihrer Geschichte heraus als unangemessene und schmerzhafte Aneignung verstehen, konnte vor diesem Hintergrund nur so beantwortet werden, wie die Fridays in Hannover es getan haben, mit einer Absage. Dass das Irritationen auslöste, Fragen aufwarf, dass Orga- oder Formfehler benannt wurden – ja gut, das ist verständlich.

Aber dann ist nicht nur der übliche Twitter- und Insta-Mob darüber hergefallen, auch viele Medien sind lustvoll in die Häme eingestiegen und haben gar dazu eingeladen. Der HAZ-Chefredakteur etwa twitterte: „Wer bei #FFF in #Hannover auftritt, wird vorher einer Frisurenkontrolle unterzogen. Echt.“ Vielleicht ist das schlicht der Logik des Clickbaits geschuldet – oder ist es die Freude darüber, Schüler*innen in die Schranken zu weisen, die nicht (mehr) mit niedlichen Eisbärenschildern demonstrieren gehen, sondern Kapitalismus und Patriarchat und weiße Privilegien anprangern?

Zuerst wurde der „Ich lass mir doch von denen meine Frisur nicht verbieten“-Empörungsreflex gefüttert – um dann vorwurfsvoll zu behaupten, der Klimastreik werde ja nun von der Frisurdiskussion überschattet. Muss man das womöglich „Populismus“ nennen? Es wäre doch eigentlich denkbar gewesen, die Erklärung der Fridays ernst zu nehmen oder Expert*innen um eine sachliche Einordnung des Hintergrunds zu bitten. Oder zumindest den Ball flach zu halten, falls „neutrale“ Expert*innen nicht sofort auffindig gewesen wären.

Meine 2019-Überzeugung, dass die Fridays da jetzt aber echt ein bisschen übertreiben, wäre vielleicht auch meine 2022-Überzeugung, wenn ich mit der Kritik von damals im Kopf und dem damaligen Ausgangspunkt nicht auf so viele Menschen getroffen wäre, die mir mit ihrer – für mich sonst kaum verfügbaren – Perspektive eine andere Sicht ermöglicht hätten. Ohne solche Perspektiven ist die Chance klein, dass sich Horizonte weiten. Um so trauriger, dass Medien diese Aufgabe nicht annehmen.

Das alles wäre nicht wichtig, wenn es um Haare ginge. Aber es geht nicht um Haare. Es geht darum, bei laufendem Countdown aus einer brutal zerstörerischen Welt eine gerechte Zukunft zu schaffen. Und darum, dass wir diese Aufgabe denen überlassen, die weder die Zerstörung noch die Ungerechtigkeit zu verantworten haben.

Und dass wir sie dann dafür verspotten.


*Am 28. März ist Tupoka Ogette im Literarischen Salon in Hannover zu Gast.